[Lesen] Medizinerausbildung – «Ich darf alles, aber ich kann fast nichts»

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«Von cand. med. Thomas Abendroth

Im Herbst dieses Jahres werde ich «approbiert», durch eine schmucklose Urkunde zum «Arzt bestallt» werden. Dann bin ich, auf Lebenszeit, zur selbständigen Ausübung der gesamten Heilkunde berechtigt: darf Geburtshilfe treiben, amputieren, sterilisieren, Morphium verschreiben oder gleich narkotisieren, darf Arbeitsunfähigkeit feststellen, Zwangseinweisungen in Nervenkliniken veranlassen und Totenscheine ausschreiben.

Ich darf alles – aber ich kann fast nichts.

In den sechs langen Jahren des Medizinstudiums war ich bei einer einzigen Entbindung aktiv dabei. Noch nie habe ich eine Patientin vaginal untersucht. Alles in allem habe ich ein halbes Dutzend kleine Schnittwunden genäht. Wenn Sie heute in der Straßenbahn neben mir umfallen würden, weil Ihr Herz plötzlich stillsteht, ist es fraglich, ob ich Sie über die Runden bringe. Ich hatte nur ein einziges Mal Gelegenheit, Herzmassage zu üben – vor vier Jahren, an einem «Phantom» aus Gummi, Leinen und Plastik.

So wie mir geht es allen meinen Kommilitonen. Die Mediziner-Ausbildung, im letzten Jahrzehnt immer wieder reformiert, ist praxisferner als je zuvor. Es macht keinen Unterschied, ob der Student an einer großen oder kleinen Universität, an einer altberühmten oder gerade neugegründeten, unter einem CSU-Kultus- oder einem SPD-Wissenschaftsminister eingeschrieben ist. Selbst Fleiß oder Faulheit, Engagement oder Desinteresse des Studenten zählen wenig: Zum Schluß werden überall Mediziner auf die Menschheit losgelassen – pro Jahr an die 10 000 -, die man besser nicht Arzt nennen sollte.

Nach sechs Jahren Studium würden wir nicht einmal einem Minimalkatalog von ärztlichen Fähigkeiten genügen, wenn es den gäbe. Theoretisch haben wir einen Wust zusammenhangloser Fakten im Kopf, praktisch-handwerklich sind wir Dilettanten. Was wir menschlich sind, bleibt dem Zufall überlassen.» [Auszug aus DER SPIEGEL 21/1983 – Ich darf alles, aber ich kann fast nichts, gesehen bei Arzt mit Humor]

Als ich das las, fühlte ich mich in meine eigene Studienzeit zurückversetzt, die erst vor Kurzem zu Ende ging. Doch halt! Dieser Spiegel-Artikel stammt aus dem Jahre 1983.
Wie schön, dass sich manche Dinge nie ändern … :-/

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