Achtsamkeit & Mitgefühl als Lebenseinstellung (2/3)

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Mitgefühl & Selbstmitgefühl

Derzeit ist es noch Zukunftsmusik, dass humanistische Qualitäten intensiv in Gesundheitsberufen gelehrt werden. Die Mitgefühls-Forschung von Tania Singer et al. beweist jedoch, dass diese Fähigkeiten trainiert werden können. Dies hat nicht nur positive Effekte auf die Patienten. Auch die eigene Resilienz, die eine bedeutende Rolle bei der Burnout-Prophylaxe einnimmt, kann durch solcherlei Training gestärkt werden.

Mitgefühl ist nicht Empathie

Die Studien von Tania Singer et al. zeigen, dass Mitgefühl von Empathie abzugrenzen ist. Sie werden von unterschiedlichen biologischen Systemen und Hirnstrukturen unterstützt1.

Mitgefühl ist ein tiefes Gewahrsein des Leids eines anderen in Verbindung mit dem Wunsch, dieses zu lindern. In diesem Verständnis ist es sowohl eine Emotion (ein Gefühl der Anteilnahme) als auch eine Motivation (der Wille, das Leid zu lindern). Im Buddhismus wird Mitgefühl vielmehr als eine Einstellung zum Leben begriffen. Wenn Mitgefühl kultiviert wird, ist es eine überdauernde Eigenschaft der Person, während Emotionen kommen und gehen.7
Bei Mitgefühl wird ein Gefühl der Wärme und der Liebe für das Leid eines anderen erzeugt3. Mitgefühl ist eine trainierbare Strategie, um prosoziales Verhalten zu vermehren und negative Erfahrungen durch Stärkung der eigenen Resilienz zu überwinden. Es stärkt neuronale Aktivität, die mit Zugehörigkeit, Liebe und positiven Emotionen verbunden ist1.

Empathie hingegen ist die Fähigkeit, das Leid anderer zu empfinden2. Es bedeutet, in Resonanz mit dem Leid eines anderen zu gehen3. Es führt nicht wie Mitgefühl zu einer aktiven Linderung von Leid4. Dementsprechend kann empathische Resonanz zum Burnout führen. Empathie ist von Aktivierungen in neuronalen Arealen begleitet, die am negativen Affekt und an der Schmerzempathie beteiligt sind1.

Der Vollständigkeit halber sei noch Mitleid erwähnt. Es ist ein „Gefühl des Bedauerns über das eigene Unglück oder das Unglück anderer. Es liegt vor, wenn es uns leid tut, dass sich jemand in einer unglücklichen Situation befindet – und wir uns dann wieder unseren eigenen Angelegenheiten zuwenden.“5

Selbstmitgefühl/Selbstfürsorge

Vor ein paar Monaten bin ich auf den Begriff „Selbstmitgefühl“ gestoßen. Im ersten Moment war mir das Wort suspekt und zu esoterisch klingend. Doch bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass sich dahinter ein großartiger Kosmos an Konzepten verbirgt, die einem das Leben sehr erleichtern können.

Bei der Achtsamkeit geht es mehr um die Geisteshaltung. Das Selbstmitgefühl bringt dann, wie der Begriff schon sagt, die emotionale Ebene mit ins Spiel. Sie ergänzen sich und verstärken jeweils die Effekte des anderen.

Statt Selbstmitgefühl könnte man auch Selbstfürsorge oder Selbstliebe sagen. Christopher Germer, einer der Experten in diesem Bereich, hat in seinem Buch „Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl“ einen ganz wunderbaren Text verfasst, dem ich nichts weiter hinzuzufügen habe:

„Selbstmitgefühl ist eine Form der Akzeptanz. Normalerweise bezieht sich Akzeptanz auf das, was wir erleben – das Akzeptieren eines Gefühls oder eines Gedankens. Selbstmitgefühl bedeutet, dass wir die Person akzeptieren, die diese Dinge erlebt. Wir nehmen uns in unserem Schmerz an. Sowohl das Annehmen als auch das Selbstmitgefühl scheinen uns leichter zu fallen, wenn wir aufgehört haben, zu kämpfen und uns nicht länger darum bemühen, uns besser zu fühlen. Die Anonymen Alkoholiker nennen diesen Zustand das ‚Geschenk der Verzweiflung’. Wenn alle Versuche fehlgeschlagen sind, werden wir wahrscheinlich empfänglicher dafür, uns anzunehmen und Mitgefühl entgegenzubringen. Obwohl Sie sich vielleicht immer noch besser fühlen wollen, glauben Sie nicht mehr daran, dass Ihnen noch irgendetwas helfen kann. Ihr Vertrauen ins Leben ist fast auf dem Nullpunkt, der Verstand hat alle seine Möglichkeiten ausgeschöpft.

An diesem Punkt haben wir die Chance, vom Kopf zum Herzen zu gelangen. Selbstmitgefühl entfaltet sich auf einer Ebene jenseits des Intellekts und des Bemühens. Wenn wir uns inmitten des Leidens wiederfinden und uns die Heftigkeit unseres Kampfes eingestehen, beginnt sich das Herz ganz von selbst zu öffnen. Wir mühen uns nicht länger damit ab, uns besser zu fühlen, sondern entwickeln Zuneigung zu uns selbst. Wir fangen an, uns liebevoll zu umsorgen, weil wir leiden.

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen „umsorgen“ und „kurieren“. Wir wollen etwas kurieren, wenn wir eine Möglichkeit haben, ein Problem zu beheben. Aber wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft und alle Bemühungen um Heilung fehlgeschlagen sind, können wir immer noch fürsorglich sein. Es ist wie beim Umsorgen eines sterbenden Menschen: Wir geben den Kampf auf und nehmen empfindsam Anteil an der Erfahrung des Sterbens. Auf der emotionalen Ebene wird es uns umso besser gehen, je eher wir aufhören, darum zu kämpfen, dass es uns besser geht. Paradoxerweise führt dann die Fürsorglichkeit zur Heilung.

Das englische Wort für Mitgefühl – compassion – stammt vom Lateinischen ab: com (mit) und pati (leiden) oder „Mitleiden“. Wenn wir echtes Mitgefühl empfinden, nehmen wir am Leiden eines Menschen Anteil. Mitfühlend zu sein bedeutet, dass wir den Schmerz eines anderen Menschen anerkennen, dass wir unsere Angst vor oder unseren Widerstand gegen sein Leiden aufgeben und dass ein natürliches Gefühl der Liebe und Zuneigung zu dem leidenden Individuum strömt. Mitgefühl ist das völlige Loslassen des Widerstandes gegen emotionales Leid. Es ist totales Annehmen: der betroffenen Person, des Schmerzes sowie unserer eigenen Reaktionen auf den Schmerz.

Selbstmitgefühl bedeutet einfach, dass wir uns selbst dieselbe Freundlichkeit entgegenbringen, mit der wir uns um andere kümmern würden. Bereits ein kleiner Wechsel der Blickrichtung kann unser Leben völlig verändern – sowohl in leidvollen Zeiten als auch im Umgang mit unseren Alltagsproblemen. Mitgefühl mit sich selbst zu haben ist eigentlich ein natürlicher menschlicher Instinkt – manchmal verschüttet oder unterdrückt –, der noch stärker ist als der instinktive Widerstand gegen den Schmerz. Glücklicherweise kann jeder dieses Selbstmitgefühl wiederentdecken.“6

Weiterlesen

1. Teil: Achtsamkeit

3. Teil: Achtsamkeit & Mitgefühl trainieren

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1. Klimecki, O. M., Ricard, M., & Singer, T. (2013). Empathie versus Mitgefühl – Erkenntnisse aus der Forschung mit Erster-Person- und Dritter-Person-Methode. In T. Singer & M. Bolz (Hrsg.), Mitgefühl in Alltag und Forschung (E-Book). München: Max-Planck-Gesellschaft. Verfügbar unter: http://www.compassion-training.org
2. Ozawa-de Silva, B., & Tenzin Negi, G. L. (2013). Cognitively Based Compassion Training (CBCT): Protokoll und Schlüsselkonzepte. In T. Singer & M. Bolz (Hrsg.), Mitgefühl in Alltag und Forschung (E-Book). München: Max-Planck-Gesellschaft. Verfügbar unter: http://www.compassion-training.org
3. Grant, J. A. (2013). Mit Schmerzen leben – Erörterungen zur meditationsgestützten Analgesie. In T. Singer & M. Bolz (Hrsg.), Mitgefühl in Alltag und Forschung (E-Book). München: Max-Planck-Gesellschaft. Verfügbar unter: http://www.compassion-training.org
4. Kerzin, B. (2013). Selbst, Interdependenz und Weisheit – Eine kontemplative Perspektive. In T. Singer & M. Bolz (Hrsg.), Mitgefühl in Alltag und Forschung (E-Book). München: Max-Planck-Gesellschaft. Verfügbar unter: http://www.compassion-training.org
5. Hangartner, D. (2013). Menschliches Leid und die Vier Unermesslichen – Eine buddhistische Perspektive auf Mitgefühl. In T. Singer & M. Bolz (Hrsg.), Mitgefühl in Alltag und Forschung (E-Book). München: Max-Planck-Gesellschaft. Verfügbar unter: http://www.compassion-training.org
6. Germer, C. (2010). Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl – Wie man sich von destruktiven Gedanken und Gefühlen befreit. Stuttgart: Arbor.
7. Bornemann, B. & Singer, T. (2013). Das ReSource-Modell des Mitgefühls – Eine kognitiv-affektive neurowissenschaftliche Perspektive. In T. Singer & M. Bolz (Hrsg.), Mitgefühl in Alltag und Forschung (E-Book). München: Max-Planck-Gesellschaft. Verfügbar unter: http://www.compassion-training.org
Bildquelle: Klimecki, O. M. & Singer, T. (2015). Compassion. In A. W. Toga (Hrsg.), Brain Mapping: An Encyclopedic Reference, 3, 195-199. Verfügbar unter: http://bit.ly/2bqAaCE

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