In diesem Artikel mache ich Euch mit Selbsthilfemethoden zur Stressbewältigung vertraut, die auf Achtsamkeit und Mitgefühl basieren. Sollte sich das für Euch zu esoterisch anhören – dann ist das ein Grund mehr weiterzulesen. Wider Erwarten handelt es sich um ganz bodenständige Konzepte.
Im ersten Teil geht es um Achtsamkeit (engl. ‚mindfulness’), im zweiten um Mitgefühl (engl. ‚compassion’) und im dritten darum, wie man diese trainieren kann.
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Achtsamkeit
„You can’t stop the waves but you can learn to surf.”
Jon Kabat-Zinn
Während des Medizinstudiums litt ich unter Prüfungsängsten. So probierte ich im Laufe der Jahre verschiedene Strategien aus, um mit den Anforderungen leichter zurecht zu kommen. Manche halfen mehr, manche weniger. So richtig geholfen hat damals keine.
Letztes Jahr nahm ich an einem MBSR-Kurs teil. MBSR steht für Mindfulness-Based Stress Reduction, auf deutsch Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion. Das war wie eine Offenbarung. Ich lernte einen Weg kennen, mit meiner Empfindsamkeit im Alltag und – mittlerweile – Berufsleben besser zurecht zu kommen.
Wenn man achtsam ist, werden unangenehme Erfahrungen von einer Art Pufferzone umgeben, in der man Atem holen kann.1
Was ist Achtsamkeit und wofür wird sie angewendet?
Achtsamkeit ist eine Lebenseinstellung, die sich durch eine akzeptierende und wohlwollende Haltung sich selbst gegenüber auszeichnet. Es ist ein „offenes, nichturteilendes Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick»2. Gewahrsein bedeutet wiederum das „Erspüren und Wahrnehmen wie es unserer Seele, unserem Geist und unserem Körper geht, über das gedankliche Wissen hinaus»2. Diese Definitionen stammen von Jon Kabat-Zinn, einem amerikanischen Molekularbiologen und emeritierten Professor an der University of Massachusetts Medical School. Dort gründete er 1979 die Stress Reduction Clinic, wo er nach und nach das MBSR-Programm entwickelte.
Es gibt verschiedene Wege, Achtsamkeit im eigenen Leben zu kultivieren. Ich stelle hier stellvertretend MBSR vor. Kabat-Zinn hat damit eine Methode geschaffen, die die „jahrtausendealte buddhistische Achtsamkeitsmeditation mit modernen Erkenntnissen der Verhaltensmedizin und Stresstheorie»3 verbindet. Dafür muss man weder religiös, esoterisch noch spirituell sein. Die Übungen sind bodenständig, frei von Hokuspokus und die Wirkung ist sogar evidenzbasiert4,5. Die Eigen- als auch die Fremdwahrnehmung wird geschult, um angeborene Ressourcen wieder zu entdecken. Durch praktische Übungen lernt man mit Stress, schmerzhaften Gefühlen, körperlichen Schmerzen oder schwierigen Kommunikationssituationen besser zurecht zu kommen6.
Bei den vielen anderen Methoden, die ich probiert hatte, ging es meist um eine Veränderung meiner Einstellungen mittels positivem Denken, Affirmationen oder ähnlichem: „Ist ja alles nicht so schlimm. Du schaffst das schon», etc. Es hat mir wenig geholfen. Bei der Übung der Achtsamkeit ist es genau andersherum. Ich lerne, die „ganze Katastrophe des Lebens»2 anzunehmen. Ich nehme eine beobachtende und nachsichtige Haltung gegenüber den Ereignissen in meinem Geist ein. Durch diese „radikale Akzeptanz»2 meiner Gedanken und Gefühle verändern sich diese von selbst. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich verstand, dass ich nicht mich selbst ändern muss – das, je länger ich es probiert hatte, umso unmöglicher schien. Was ich ändern kann, ist meine Wahrnehmung gegenüber Ereignissen in meiner Um- und Innenwelt. Indem ich nicht länger meine Gedanken und Gefühle mit meiner eigenen Identität verwechsle, nehme ich ihnen die Macht über mich3.
Achtsamkeitsmeditation ist geeignet zur/bei
- Verbesserung der eigenen Lebensqualität
- Vorbeugung & Behandlung stressbedingter Erkrankungen
- Unterstützung einer Bluthochdruck-Therapie
- Verbesserung der Funktion des Immunsystems
- chronischen Schmerzzuständen
- unterstützenden Behandlung bei Suchterkrankungen, Essstörungen u.v.m.
Wie ist Achtsamkeit auszuüben?
Achtsamkeit ist in einem wachen Zustand jederzeit und überall kostenfrei anwendbar.
Das MBSR-Programm dauert 8 Wochen. Bei den wöchentlichen Treffen lernt man verschiedene Achtsamkeitsübungen kennen: Meditation, Bodyscan (Körperreise) und leichtes Yoga. Bei der Meditation wird zwischen formellen und informellen Übungen unterschieden. Formelle Achtsamkeitsmeditation beinhaltet z.B. die Sitz- und Gehmediation – Gedankenleere erzeugen indem man „einfach“ nichts denkt. Die informellen (formlosen) Übungen dienen der Übertragung der achtsamen Haltung in den Alltag. Zu Hause sollte täglich geübt werden.
In den Gruppenstunden wird neben Erfahrungsaustausch Wert auf die Vermittlung von neurophysiologischem und psychologischem Wissen über Wahrnehmung und den Umgang mit Stress gelegt3.
Was solltest Du vor der Ausübung von Achtsamkeit beachten?
MBSR ersetzt keine medizinische oder psychologische Behandlung, aber es kann zur Vorbeugung und zur Unterstützung einer Therapie angewandt werden. Wenn man unter gesundheitlichen Problemen leidet, ist vorher mit dem behandelnden Arzt abzuklären, ob die Übungen geeignet sind.
Herausfordernd an der Achtsamkeit ist, dass sie wie ein Muskel trainiert werden muss. Nur so entwickelt man sich weiter, nur so wird der Muskel kräftiger, geschmeidiger und beweglicher. Kabat-Zinn sagt: „Don’t like it, do it!», d.h. auch wenn man mal keine Lust hat, sollte man einfach üben, „als ob Dein Leben davon abhinge». Die Kursabende dienen nur als Anstoß. Die tägliche Praxis zu Hause ist Voraussetzung, um alte Gewohnheiten und Reaktionsmuster zu identifizieren und im nächsten Schritt durch eine achtsame Haltung zu ersetzen.
Das Angenehme ist, dass es kein Ziel zu erreichen gibt. Ganz im Gegenteil, je geringer die Erwartungen sind, je weniger ergebnisorientiert man an die Sache herangeht, desto eher werden sich Veränderungen einstellen.
„Meister, Meister, wie lange brauche ich bis zur Erleuchtung?” „Nun, vielleicht 20 Jahre.”
„Und wenn ich mich wirklich sehr anstrenge?”
„Dann 40 Jahre”.
Scherz unter Buddhisten8
Welche Nebenwirkungen sind möglich?
Zufriedenheit, Glück, innere Ruhe u.v.m. Achtsamkeit ist ein risikoarmer Eingriff in automatisch ablaufende Denk- und Reaktionsmuster. Es sind keine unerwünschten Wirkungen bekannt.
Wie ist Achtsamkeit aufzubewahren?
Achtsamkeit ist weniger eine Technik, die man anwendet, wenn man sie gerade braucht. Sie ist vielmehr eine Art des Seins6.
Als der Kurs zu Ende war, hatte ich das Gefühl, dass es jetzt erst richtig anfängt. Mein Leben mit einer neuen Einstellung leben: achtsam.
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3. Teil: Achtsamkeit & Mitgefühl trainieren
Literaturverzeichnis:
1. Germer, C. (2010). Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl – Wie man sich von destruktiven Gedanken und Gefühlen befreit. Stuttgart: Arbor.
2. Kabat-Zinn, J. (2011). Gesund durch Meditation: Das vollständige Grundlagenwerk zu MBSR (2. Aufl.). München: O.W. Barth.
3. Stressbewältigung im Alltag. natur & heilen, 2011 (11).
4. American Mindfulness Research Association (AMRA) (2016). Verfügbar unter: https://goamra.org
5. Hempel S, Taylor SL, Marshall NJ et al. (2014). Evidence Map of Mindfulness. Washington (DC): Department of Veterans Affairs (US); Results. Verfügbar unter: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK268642
6. MBSR-MBCT Verband Deutschland (2016). Verfügbar unter: https://www.mbsr-verband.de
7. Kabat-Zinn, J. (2016). Was Achtsamkeit ist. Arbor Seminare. Verfügbar unter: http://www.arbor-seminare.de/was-achtsamkeit-ist
8. Bornemann, B. & Singer, T. (2013). Was wir unter Training verstehen (und was nicht). In T. Singer & M. Bolz (Hrsg.), Mitgefühl in Alltag und Forschung (E-Book). München: Max-Planck-Gesellschaft. Verfügbar unter: http://www.compassion-training.org
Bildquelle: That Semicolon (2016). Mind Full, or Mindful? Verfügbar unter: http://bit.ly/2b5Olto